Tag 1018. Täglich Laufen! Atmen! Glücklich sein! In dieser Woche gelang mir das hin und wieder. Das Wetter war schön. Die Tage werden immer heller. Herrliche Sonnenstunden machten es dem Glücksgefühl leicht, mich auf meinen Wegen zu begleiten. Da aber kalter Wind teilweise meine Freude trübte, wird diese Woche keinen bevorzugten Platz im Schatzkästlein meiner Erinnerungen finden. An die zwanzig Kilometer pro Lauf bin ich noch nicht wirklich gewöhnt. Auch das Krafttraining fällt mir noch nicht wirklich leicht. Es bleiben für dieses Jahr noch Wünsche übrig. Ich sehe mit gelassener Neugier und Zuversicht auf die kommende Zeit.
Am letzten Sonntag (Tag 1012) bin ich nur kurz im Park gelaufen.
Am Montag (Tag 1013) ging es dann wieder zum See im Wald (20 km). Zwar schien die Sonne, aber es wehte ein sehr kalter Wind. Jeden Tag gibt es neue Blättlein an Büschen und Blütlein am Boden. Die Bäume sind aber noch nicht soweit, daß sie grün werden. Da braucht es noch ein wenig Geduld. Auf einem Baum saßen vier Eichelhäher zusammen. Am See trockneten sich gerade beide Kormorane die Flügel. Zwei Mäusebussarde schraubten sich allein durch den Aufwind in unglaubliche Höhen. Beim Laufen habe ich wieder vermehrt auf den Laufstil geachtet. Dazu gehört die Atemtechnik, die Körperhaltung und das Laufen selbst. Es macht Spaß und fühlt sich sehr entspannt und gut an.
Am Dienstag (Tag 1014) bin ich gleich früh zur kleinen Parkrunde aufgebrochen (4 km). Auf einem Teil meiner Runde liefen Schulkinder, die gerade Sportunterricht hatten. Ein Junge lief vorneweg. Dann kamen zwei weitere Jungs und in einem deutlichen Abstand ein schnelles Mädchen. Ab dann wurde gekeucht. In dieser Art sehe ich das sogar schon bei Kindergartenkindern. Und ich sehe es auch bei den Hundegruppen, die ich im Wald treffe. Es berührt mich. Aber ich kann es nicht einordnen.
Am Mittwoch (Tag 1015) bin ich wieder die 20 km gelaufen. Es war ein herrlicher Sonnentag. Ein Teil des Weges konnte ich im Pullover laufen. Dann kam sehr kalter Wind auf. Ich brauchte doch wieder Handschuhe, Stirnband und Windschutz. Am See war die Stimmung sonnig. Der Haubentaucher hatte sich verdoppelt und die beiden konnten nicht voneinander lassen. Kampf oder Liebe? Ich weiß es nicht. Zehn Meter neben mir landete ein Bussard und pickte etwas auf. Ich blieb stehen und schaute dem Vogel zu. Der guckte mich zwischen dem Picken immer wieder an und entschied sich dann für den Abflug. Es ist beglückend und auch unheimlich einen so großen Raubvogel aus nächster Nähe zu betrachten. Auf dem Heimweg hätte ich Salbutamol gebraucht. Die Atmung wurde immer schwerer. Ich hatte aber gehofft, ich würde mich von alleine erholen. Leider passierte das nicht. Ich glaube, es war ein Fehler auf das Medikament zu verzichten. So habe ich mir am Ende den Lauf schwer gemacht, obwohl es nicht nötig gewesen wäre. Die Lehre von der Geschicht‘: „Vergiss das Salbutamol nicht!“
Am Donnerstag (Tag 1016) war wieder die kleine Parkrunde dran. Ich bin erst nachmittags gelaufen. Die Sonne schien und es war warm. Ich konnte im T-Shirt laufen. Sehr schön!
Am Freitag (Tag 1017) bin ich die Waldseerunde mit Schlenker (15 km) gelaufen. Die zwanzig Kilometer erschienen mir an diesem Tag zu viel. So beschloss ich, am Freitag und am Tag darauf die Waldseerunde (14 km) zu nehmen. Es ist für mich leichter zwei mal 14 km zu laufen als einmal 20 km, zumal auf der Runde mit den 20 Kilometern mehr Hügel zu erlaufen sind. Das Laufen auf der Ebene ist für mich locker und entspannt möglich. Sobald aber ein Hügel zu erlaufen ist, kommt meine Lunge sofort an ihre Grenze. Auf der Waldseerunde konnte ich gut entspannen. Ich fühlte die kühle Luft und freute mich an erfrischendem Nieselregen, der gelegentlich vom Himmel fiel. Ich konnte loslassen. Wärme durchfloss meinen Körper. Die Gedanken versiegten. Der Wald flog an mir vorbei. Ja, so fühlt sich das Glück an. Am See war es sehr still. Der Nieselregen hatte wohl die Menschen vertrieben. Die Wasservögel waren mit sich selbst beschäftigt. Die zwei Schwäne hatten sich im Schilf ein ruhiges Plätzchen gesucht. Zwei Erpel warben um eine Ente. Plötzlich konnte ich mir vorstellen, wie es sich anfühlen würde, wenn diesen Erdenbewohnern die Wasserflächen allein gehören würden. Für diesen Moment schien eine friedliche Welt möglich.
Heute, am Samstag (Tag 1018) ging es noch einmal auf die Waldseerunde (15 km). Diesmal lief ich früh los. Die Finsternis wurde gerade eben vom ersten Licht vertrieben. Es war ein einsamer Lauf. Kühle umfing mich. Ich fühlte die kranke Lunge. In Gedanken ließ ich mich törichterweise wiedermal verführen, die Nähe zur Sterblichkeit mit einer Marathondistanz zu bemessen. Gerade wollte ich mich in Sicherheit wiegen, daß die Zeiten, in denen das geeignete Maß die tägliche Meile war, definitiv vorbei seien. Da fühlte ich plötzlich, welch herrlicher Wahnsinn das Laufen in meiner Situation ist. Brechts Mahnung gegen Verführung kam mir in den Sinn: „Laßt euch nicht verführen! Es gibt keine Wiederkehr. Der Tag steht in den Türen; Ihr könnt schon Nachtwind spüren; Es kommt kein Morgen mehr. Laßt euch nicht betrügen, daß Leben wenig ist. Schlürft es in vollen Zügen! Es wird euch nicht genügen. Wenn ihr es lassen müßt! Laßt euch nicht vertrösten! Ihr habt nicht zu viel Zeit! Laßt Moder den Erlösten! Das Leben ist am größten: Es steht nicht mehr bereit. Laßt euch nicht verführen zu Fron und Ausgezehr! Was kann euch Angst noch rühren? Ihr sterbt mit allen Tieren. Und es kommt nichts nachher.“
Und da war wieder das wunderbare reine Gefühl des Daseins, des inneren Jubels über das Laufen: Täglich laufen! Atmen! Schnaufen! Glücklich sein! Wie soll mich da Angst noch rühren? Fron und Ausgezehr verführen? Ich laufe! Ich lebe! Ich fühle! Ich bin! Was für ein schöner Tag!
In diesem Sinne wünsche ich schöne Tage!